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Feuilleton

Wenn es ans Leben geht – Zum Tod von Esther Bejarano – Holocaust-Überlebende, Musikerin, Antifaschistin

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Da sitzt ein 18-jähriges Mädchen am Akkordeon – sie hat nie zuvor eins in der Hand gehabt – und versucht sich an dem populären Schlager „Du hast Glück bei den Frau`n, Bel Ami“, den der charmante Willi Forst so unnachahmlich in einem UFA-Schinken sang. Das Mädchen ist klein, aber von markanter Schönheit. Sie sucht sich die richtigen Bassakkorde, die auf ihrem eigentlichen Instrument, dem Klavier, ganz anders funktionieren. Aber sie schafft es dank ihrer Musikalität, die ihr Vater und Mutter mitgaben.

Das Beschriebene passierte im Jahr 1943 im deutschen Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau. Die junge Musikerin von damals heißt Esther Loewy und das geglückte Spiel wird ihr das Leben retten, oft genug jedoch genauso Begleitmusik zum Tod anderer sein. –

Vor zwei Tagen ist Esther Bejarano, 96-jährig, in Hamburg gestorben. Bis zu ihrem Tod hatte sie die Zusammenarbeit mit jungen Leuten gesucht, um mit ihnen und ihrer Musik gegen die neuen Nazis kämpfen, gegen Rassismus jeglicher Art. Vor einem Jahr, dem 75. Jahrestag der Befreiung vom Faschismus, sprach sie sich in einem offenen Brief an den Bundespräsidenten noch dafür aus, den 8. Mai zu einem deutschen Feiertag zu machen. Vergebens.

Als ich Esther Bejarano in Hamburg besuchte, war sie 87 Jahre alt und es war schwer, mit ihr einen Termin zu vereinbaren. „Eigentlich habe ich gar keine Zeit“, sagte sie am Telefon. „Rufen Sie doch wieder an, wenn Ferien sind.“ Sie war unablässig unterwegs; erzählte Schülern ihr Leben und bereiste mit Sohn Joram, Tochter Edna und den anderen Mitgliedern des Ensembles „Coincidence“, was „Fügung“, „Zufälligkeit“ und „Zusammentreffen“ heißen kann, die Bühnen dieser Republik. Im Repertoire in neun Sprachen: Brecht-, Eisler-, Weill-Lieder und jiddische Traditionals.

Sie kannte Mikis Theodorakis persönlich, dessen Lieder sie ebenfalls sang, den großartigen griechischen Komponisten und Friedenskämpfer, der für seine Überzeugung 1968 im Gefängnis der Militärjunta saß. Und als vor Jahren HippHopp-Musiker auf sie zukamen mit dem Wunsch, ihre Verse, die oft Übertragungen der alten jiddischen Lieder sind, mit eigenen Noten verbinden zu dürfen und so ein Gegengewicht zu den auf Schulhöfen kursierenden Nazi-CDs aufzustellen, war sie dazu sofort bereit. Sie, die Beethoven und Mozart liebte, wunderte sich darüber, dass es mit den abgefahrenen Sprechgesängen funktionierte, gegen Ausgrenzung, Rassenhass und Gewalt anzusingen, junge Leute erreicht wurden. Denn das, so ihre Überzeugung, ist so wichtig. Gerade in diesem Land, wo der braune Mob den Kopf immer frecher hebt. „Dass so was hier wieder passieren kann…“. Es ist wohl das Einzige, das Esther Bejarano fassungslos zu machen in der Lage war. –

Mit 21 Jahren im Jahr 1945.

Im Gespräch mit der kleinen, agilen Frau fiel ein Satz besonders häufig: „Ich habe so viel Glück gehabt.“ Geboren im Jahr 1924 in Saarlouis, erlebte sie eine erfüllte, schöne Kindheit. Der Vater war Kantor der jüdischen Gemeinde, zur Familie gehörten ein Bruder (*1916) und zwei Schwestern (*1918, 1920). Die Familie zog später nach Saarbrücken, wo der Kantor eine bessere Stelle erhielt. Im Jahr 1936 wechselte man noch einmal nach Ulm, das Familienoberhaupt wurde Direktor der jüdischen Schule. Der Leidensweg, der sich mit den Nürnberger Rassegesetzen noch verschärfen würde, hatte da aber schon lange begonnen. Die beiden ältesten Geschwister schafften die Auswanderung nach Amerika beziehungsweise Palästina noch. Eltern und Schwester überlebten den Naziterror nicht.

Hoffnungsvoll ging Esther im Jahr 1940 noch in ein Vorbereitungslager zur Auswanderung. Im Jahr 1941 wurden die jedoch alle von den braunen Machthabern geschlossen. Die Wannseekonferenz würde ein Jahr später die systematische Vernichtung der europäischen Juden festschreiben.

Esther Loewy hatte von 1941 bis 1943 in Fürstenwalde bei Berlin Zwangsarbeit zu leisten. Wieder sagt sie, sie habe „so großes Glück gehabt“, denn die Besitzer des Blumenladens behandelten sie gut. Als auch dieses Zwangsarbeitslager bei Berlin schloss, bestieg die 18-Jährige am 20. April 1943 den Zug in Richtung Osten, dessen Ziel für sechs Millionen ihrer Glaubensgenossen bis 1945 die Endstation bedeutete: Auschwitz-Birkenau. Als die polnische Musikerin Zofia Czajkowskaja dort auf Befehl der SS ein Mädchenorchester zu bilden hatte, kam es zu oben beschriebener Prüfung. „Es war für mich ein Wunder, dass ich es geschafft habe“, sagt Esther Bejarano heute noch.

Das zweite „Wunder“ passierte, als sich nach einem Dreivierteljahr alle zu melden hatten, in deren Adern ein Anteil „arischen“ Blutes floss. Esther verwies auf eine christliche Großmutter, die Mutter ihres Vaters. „Vielleicht bist du die Einzige, die hier rauskommt“, drängten sie ihre Musikermitgefangenen dazu, selber den Tod vor Augen. Denn das Orchester hatte nicht nur beim täglichen Ein- und Ausmarsch der Arbeitskolonnen am Tor zu spielen, auch bei Ankunft neuer Häftlinge, die von der Bahnrampe oft sofort „ins Gas“ geschickt wurden, erklangen fröhliche Märsche. „Dieser Gedanke ist für mich heute noch unerträglich“, sagte Esther Bejarano, nach ihren Albträumen befragt. „Dass man nichts tun konnte, sondern spielen musste.“

Nach einem knappen Jahr Auschwitz kam die Gefangene in Ravensbrück an, leistete für Siemens Zwangsarbeit, die sie nach Möglichkeit vorsichtig sabotierte. Als es im April 1945 auf den Todesmarsch ging, gelang ihr die Flucht.

Im Jahr 1945 wanderte die 20-Jährige sofort nach Israel zu ihrer Schwester aus. Weil sie das Klima nicht vertrug und aus politischen Gründen kehrte sie jedoch im Jahr 1960 zurück. Inzwischen war sie verheiratet mit einem Kommunisten und hatte zwei Kinder (*1951 und 1952), bekennt sich konsequent zum Antifaschismus. Ihre eintätowierte Häftlingsnummer 41948 hat sie entfernen lassen. „Ich konnte es einfach nicht ertragen“, sagt sie, die so vieles ertragen hat. –

Wie hat ein Mensch solch ein Leben, vor dem man sich verneigen muss, ausgehalten? Wie begriff einer, der nie politisch war, was ihm geschieht? „Ich muss es überleben, ich muss mich rächen“, habe sie damals immer wieder gedacht. Heute verstand sie ihre Rache nicht im alttestamentarischen Sinne Auge um Auge…. „Vielleicht ist meine Rache, dass ich so lange leben darf, um immer wieder zu erzählen darüber, Zeugnis abzulegen“, fragte sie, die in Israel Musik studierte und ausgebildete Sopranistin war, sich selbst. Obwohl Esther Bejarano gleichzeitig zugab, viel zu lange geschwiegen zu haben.

Esther Bejarano war geehrt und ausgezeichnet, unter anderem Trägerin des Bundesverdienstkreuzes und der Carl-von-Ossietzky-Medaille. Und sie war bis zu ihrem Tode unermüdlich. Sie veranstaltete Lesungen und Konzerte und sprach immer wieder vor Schülern. Die so jung wirkende Greisin erzählte ganz unspektakulär und ruhig, manchmal mochte man fürchten, dass bei sehr jungen Leuten das Entsetzen nicht Raum griffe angesichts deutscher Vergangenheit. Aber die Zeitzeugin machte ihnen auf ihre Art wohl klar, wie es Max Mannheimer, ebenfalls Holocaust-Überlebender, einmal zu Schülern sagte: „Du bist nicht schuldig, du hast nur eine Verantwortung für die Zukunft.“ Um diese Verantwortung geht es. Überall auf der Welt. Deshalb wurde die jüdische Antifaschistin Esther Bejarano nicht müde, zu erzählen. Akkordeon spielte sie, wenn ihr Zeit blieb, trotz allem manchmal auch noch. Jetzt ist diese mutige Frau für immer verstummt.

Barbara Kaiser – 11. Juli 2021

Anmerkung: Die Überschrift ist identisch mit einem Buchtitel von Peter Edel (1921 bis 1983). Der Auschwitz-Überlebende schrieb in zwei Bänden seine Erinnerungen auf.